Das Konzert anlässlich der Verleihung des großen Kunstpreises durch die Akademie der Künste an Younghi Pagh-Paan 2020, das im Rahmen des Festivals MaerzMusik – Festival für Zeitfragen der Berliner Festspiele am 26.3.2020 stattgefunden hätte, musste aufgrund der Corona-Pandemie abgesagt werden. Vom 8. bis 10.6.2020 produzierte Deutschlandfunk Kultur mit Unterstützung der Akademie der Künste Berlin mit dem Kammerensemble Neue Musik das Portraitkonzert in der Jesus-Christus-Kirche Dahlem. Die Veröffentlichung als CD beim Label NEOS konnte als Koproduktion durch tritonus e.V. realisiert werden.

Younghi Pagh-Paan (*1945)
Chamber Works

[01] MAN-NAM I für Klarinette, Violine, Viola und Violoncello (1977) [12:34]

[02] ma-am (Mein Herz) für Solo-Frauenstimme (1990)* auf ein Gedicht von Chung Chul [04:07]

[03] U-MUL / Der Brunnen für sieben Instrumentalisten (1992) [10:10]

[04] Mein Herz I für Sopran und Viola (2020)* auf ein Gedicht von H. C. Artmann [07:22]

[05] Horizont auf hoher See für Streichquartett (2016)* [17:50]

Gesamtspieldauer: 52:36

Angela Postweiler, Sopran

Ensemble KNM Berlin
Rebecca Lenton, Flöte
Miguel Pérez Iñesta, Klarinette
Michael Weilacher, Schlagzeug
Theodor Flindell, Violine
Lisa Werhahn, Violine
Kirstin Maria Pientka, Viola
Cosima Gerhardt, Violoncello
Jonathan Heilbron, Kontrabass

* Ersteinspielungen

Zu bestellen bei NEOS

Bestellnummer: NEOS 12026
EAN: 4260063120268
Erscheinungsdatum: 04. Dezember 2020

Booklet-Text von Ali Gorji

MAN-NAM I (1977) [Begegnung] für Streichtrio und Klarinette ist drei Jahre nach Younghi Pagh-Paans Ankunft in Deutschland entstanden, als die Komponistin dringend einen Ausweg suchte aus einer strapaziösen Lebenslage, in der sie sich befand, ausgelöst durch die Konfrontation mit einer ihr noch so fremden Kultur. Um den Kulturschock in ihr selbst zu überwinden, thematisiert sie die Begegnung beider Kulturen in Gestalt einer vierteiligen, von einem Gedicht der koreanischen Dichterin Sa-Im-Dang Sin (1504–1551) inspirierten Komposition, in der sie zudem – gleich der Dichterin – die Sehnsucht nach ihrer Mutter (bzw. Heimat) zum Ausdruck bringt. Auf den ruhig-bewegten ersten Teil der Komposition, in dem die Komponistin „zögernd“ ihre Angst zu besänftigen versucht, folgt die „Flucht in die schützende Einsamkeit der Berge“ – dargeboten als ein reiner Streichersatz mit beweglich hüpfenden Melodie-Zellen, eingebettet in äußerst zarte Flageolett-Klänge (1:51). Der aufgewühlte dritte Teil (3:43), mit der Klarinette als Protagonistin, führt schließlich über das Intermezzo einer Solokadenz des Violoncellos (5:51) zur „Versöhnung“ der Stimmen im letzten Teil (8:04), die begleitet von trommelartigen Cello-Pizzicati das Miteinander ihrer Existenzen innig zu zelebrieren scheinen.

Die Nuria Schönberg-Nono nach dem Tod ihres Mannes Luigi Nono gewidmete Komposition MA-AM (1990) [Mein Herz] für Stimme solo und Claves ist der Beginn einer Werkreihe, in der sich die Komponistin nachdrücklich mit dem Thema „Herz“ befasst. Ein in Form des altkoreanischen Sijo – mit seiner charakteristischen Dreiteiligkeit – verfasstes Gedicht des Lyrikers Chung Chul (1536–1593) wird nicht nur innerlich emotional, sondern auch äußerlich formal zur Grundlage dieser Komposition. Im ersten Teil, übereinstimmend mit dem ersten Gedichtteil Cho-Jang genannt („Ich möchte das Herz …“), verwendet Pagh-Paan einen explizit der koreanischen Musik entlehnten Rhythmus als zeitliches Gerüst (beginnend mit einem auffälligen kurzen Akzent, der dem langgehaltenen Zentralton des vorausgeht). Das Claves-Paar übernimmt in diesem Teil, in einer reduzierten Manier, die Rolle des in Sijo-Vorführungen begleitend eingesetzten Schlaginstruments Janggo. Der zweite und der dritte Teil (1:57 und 2:50) kongruieren formal mit den übrigen zwei Teilen des Gedichts, namentlich Jung-Jang („In der unbegrenzten Himmelstiefe …“) und Jong-Jang („Damit den Ort er erhelle …“), und führen uns, das Rhythmische immer weiter entzerrend, über verschiedene Tonzentren zu dem anfänglichen Ton des zurück, womit sich der Kreis der Komposition schließt.

In U-MUL (1992) [Der Brunnen] nimmt das Schlagwerk – eine der Grundstützen der traditionellen koreanischen Musik – wie oft in Werken Pagh-Paans eine essenzielle Position ein. Es steht symbolisch für das archaische Bild des Brunnens, der selbst zu einem zweifachen Symbol wird: einerseits als Abbild der menschlichen Seele, so tief wie „eine Quelle ohne Abgrund“ (Meister Eckart), andererseits als Mahnmal eines sozialen Aktes: des Nehmens und Weitergebens – des Teilens. Die „Notwendigkeit zu teilen“ wird bereits zu Beginn deutlich, wenn die Klänge der Rahmentrommel – eintretend nach dem anfänglichen Einläuten der Eisenspirale und des Windglöckchens – von Instrumenten übernommen und weitergereicht werden. Das Ergebnis ist ein Reichtum an Klängen, der geradezu dazu einlädt, in die „Tiefe“ des akustischen Raums hineinzuhorchen. Das Schlagwerk, als Hauptfigur des Werkes, durchläuft indes über einige Stationen einen Weg der Konkretisierung: Nach dem Hinzutreten des Bambusbündels (1:43) übergibt die Rahmentrommel ihre tragende Hauptfunktion an ein archaisch anmutendes Duo aus Holzbalken und Guiro (2:54), das dem Eingang des Zentraltons E (beginnend mit der Altflöte) vorausgeht und später (4:21) als alleiniger Akteur alle Aufmerksamkeit auf sich zieht. Anschließend bereiten die um den Zentralton Es umwobenen Instrumentalklänge (5:40) den Einsatz der kreisenden Maracas vor, deren Klang Assoziationen an das ruhige Fließen des Wassers evoziert. Doch bevor dieser Konkretisierungsprozess noch weiterschreitet, lässt die Rückkehr zu den anfänglichen Klängen der Rahmentrommel, der Eisenspirale und des Bambusbündels (7:10) uns rückbesinnen auf den „Urgrund des Seins“, auf das Immer-Dagewesene. Das Prozesshafte ist nur ein Schein, alles Gegebene war schon immer da und wird immer wiederkehren. Das Durchschimmern eines leuchtenden, schwebenden Klanges der Streicher (8:23) leitet nun den Einsatz des Regenrohrs als ein noch deutlicheres Wasser-Symbol ein. Am Schluss des Werkes wird gleichermaßen der Vorgang des „Teilens“ konkretisiert, indem ein großes Tamtam zweimal, als Resonator agierend, den Ton eines laut angeschlagenen und sofort abgedämpften Gongs übernimmt (9:43), um ihn in seinem Inneren weiter erklingen zu lassen. Wenig später endet das Stück mit einem transparenten Klang, der sich zwischen hohen Tönen von Violine und Viola und einem in der Tiefe verweilenden Kontrabasston entfaltet und somit der Komposition ein offenes Ende gewährt.

„Wellen. Gesamtes und Teile. Dasselbe und das Andere. Horizont auf hoher See. Wir sind von unserem eigenen Blick eingekreist.“ Diese Zeilen von Simone Weil (1909–1943) sowie das erste Wort aus den Sieben Kreuzesworten („Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.“ Lukas 23,34) stehen Pate für Younghi Pagh-Paans Streichquartett Horizont auf hoher See (2016). Sie scheint in Simone Weil eine Seelenverwandte gefunden zu haben, die wie sie die Realitäten des Lebens aus einem spirituellen Blickwinkel betrachtend und mit einer stetigen „Bewegung im Bewegungslosen“ in ihre Kunst zu integrieren vermochte. Die „Kraft des Mystischen“ und die „Tiefe“ will die Komponistin suchen. Sie lässt kraftvolle ursprüngliche Klänge gemeinsam mit ihren äußerst zarten Kontrahenten, motivisch prägnante – zeitweise fugierende – Tonfolgen mit den ihnen strukturell entgegengesetzten, beweglichen und lebendigen Einzeltönen sowie unendlich weitere Andersartigkeiten hineingießen in das stabile Gerüst einer akribisch durchdachten Zeitstruktur. Sie ist eine „Architektin der Zeit“. Ihr gelingt es, die scheinbar gegensätzlichen Elemente miteinander zu verschmelzen, die vielfältigen Einzel-„Teile“ zu einem „Gesamten“ zu sublimieren. Im Schlussakt des Stückes offenbart sich dieser Vorgang ein letztes Mal nahezu ostentativ, indem eine pentatonisch strukturierte, durch ihre Schlichtheit strahlende Melodie Eingang in den Schmelztiegel der Komposition findet: Die von der Viola eingeführte Modalmelodie (14:29), gleichsam eine fremdartige Reflexion auf der Klangoberfläche des Stückes, wirft ein überraschendes – wenngleich vorgeahntes – Licht auf das Vorhergehörte, wird wieder in die Gesamtheit des Klangapparats gestreut und geht schließlich im Gefüge des Werkes völlig auf. Am Ende ist es die lebendige Ruhe, die „Bewegung im Bewegungslosen“, die bleibt.

Im jüngsten Werk aus der „Herz“-Serie, Mein Herz (2020) für Sopran und Viola, widmet sich die Komponistin dem gleichnamigen Gedicht des österreichischen Lyrikers H.C. Artmann (1921–2000). Signifikant ist für die Komposition das hochgradig synthetische Verhältnis zwischen Stimme und Instrument: sie folgen gemeinsam einem organischen und langsam pulsierenden Zeitfluss, treffen sich bei strukturell tragenden Tonhöhen, umschlingen einander, trennen sich, um sich jedoch bald wieder zu vereinen. Die acht Zeilen des Gedichts, die wiederholend mit den Worten „mein herz“ beginnen, sind formal für die Komposition konstitutiv. Die ersten zwei Zeilen werden aufeinanderfolgend vertont und führen zu einem Moment des Innehaltens, ausgelöst durch Doppel-Flageoletts der Viola solo. Ein zweiter Abschnitt (1:52) eröffnet mit der dritten Zeile des Gedichts und endet mit den Anfangsworten der vierten, bevor der nächste Formteil überraschend mit einem anderen, koreanisch anmutenden Duktus anhebt (3:20), um die Worte „mein Herz“ in koreanischer Sprache Klang werden zu lassen. Die vorhin abgebrochene vierte Zeile wird anschließend zu Ende geführt, der Bruch bleibt jedoch dem Text-Musik-Verhältnis nachhaltig anhaftend. Im vierten Formteil (4:49) werden die Zeilen fünf und sechs zwar vollständig vertont, die siebte wird dennoch nur mit einem einzigen Wort („mein herz liegt, trinkt, trägt, ist“) angedeutet, die achte bleibt ganz aus. Das Stück schließt im fünften Abschnitt (5:54) mit der reprisenhaften Rückkehr der ersten Zeile: „mein herz ist das lächelnde kleid eines nie erratenen gedankens“. Diese zauberhafte Ausgewogenheit von ratio und emotio kann gewiss auch als eine substanzielle Quelle des ganzheitlichen und authentischen Ausdrucks für die Musik Younghi Pagh-Paans gelten.

Ali Gorji

16. November 2020